Aus Furcht vor Angst

Das erste Mal, dass ich nach Berlin ging, war ich 12 Jahre alt. Die lange Autofahrt war eigentlich, nachdem wir die Wüste Südspaniens durchquert hatten, eine ungenaue Rundreise um Mitteleuropa, damals noch Lichtjahre von der fortschreitenden Entwicklung Lissabons entfernt, dem Ausgangspunkt. Aber Berlin und ihre Mauer, die gerade gefallen war und noch deutlich und grau zeigte, was der Osten gewesen war, bildete das klare Ziel, das meine Eltern, desillusionierte Sozialisten immer noch auf Zivilisation begierig, erreichen wollten. Damals weckte Paris viel mehr Interesse in mir, ohne dass ich geahnt hätte, dass diese zwei Wochen im Jahr 1991, sei es wegen der Kontraste oder der Freiheit, die in ganz Berlin herrschte, mir einen bleibenden Eindruck von der Romantik vermitteln würden, für den ich heute noch sehr anfällig bin. Es war ein riesiges, unerwartetes Abenteuer. Nicht ohne Schreck und Grauen, aber auch mit viel Spaß und großem Vergnügen, das waren wir. Meine Mutter sprach die Sprachen aller Länder, durch die wir reisten, zumindest so dachte ich. Mein Vater kam mit ein wenig Französisch durch, und überall irgendwie, das haben wir alle damals geglaubt, auch wenn die zunehmenden Streitereien schon das Ende dieser kleinen Familie, die keinen weiteren Sommer überlebte, ankündigten - genauso wie der größeren, die, was mich betrifft, kurz nach dem Tod der beiden auseinander fiel.

Das Auto ging schon auf der Hinfahrt in Spanien kaputt, dann wurde mein Bruder krank, und meine Mutter und ich verirrten uns spät nachts auf dem Weg aus dem riesigen Carrefour-Einkaufsmarkt, den es in Portugal noch nicht gab. Wir fragten nach dem Weg durch die böhmischen Gassen von Lyon, Betrunkene luden uns ein, aus dem Auto auszusteigen und in die Bars zu gehen, während mein Vater mit aufgestellten Zelten und einem kleinen, kranken Kind da stand, unfähig, etwas anderes zu tun als seine Panik zu verbergen und warten. Immer noch in Frankreich, auf dem besten Campingplatz aller Zeiten, sind wir mit einem Seilrutschen geflogen, dann kamen die Seen und Postkartenberge in der Schweiz, die schönsten Blumen, die ich je auf den Fensterbänken gesehen habe, aber vor allem die Wut im Kiefer meines Vaters über mein Lachen, als ich auf dem Campingplatz La Pichette die phallischen Seifen, mit denen ich meine Hände senkrecht einreiben konnte, entdeckte. Wir fuhren durch Ostdeutschland nach Berlin, und am meisten erinnere ich mich an die am Straßenrand gepflanzten Kopfsalate, an die leeren Regale in Tankstellen, die dekadenter waren als unsere, an die beschissenen öffentlichen Toiletten. Es gab nur Chips mit Paprika und Sprudelwasser, was auch heute noch der Fall ist, wenn man nicht weiß, wie man sie platt und still bestellt. Dann endlich in Berlin, saßen wir in einem imposanten Café an Unter den Linden, wir rissen kleine Mauerstücke, ohne Spitzhacken und Meißel zu mieten, heraus, und irgendwo an der Spree, erinnere ich mich, am Westufer zu stehen und in Richtung Nordosten zu schauen: Es war alles monochromer Beton, die Gegend, die ich heute als Warschauer Straße und ihre Umgebung identifiziere. Eines Tages, am Hohenzollerndamm, brüllte der kommunikative Sohn der Freundin meiner Eltern „Alte Kuh“ zu ihr und gleich danach schrie ein Radfahrer uns an: DAS IST EIN FAHRRADWEG! Zu Hause gab es kaum Papierservietten und um ständig die Handschrift zu üben, hatten alle Schulhefte extrem dünne DoppellinienIm Park an der Glienicker Brücke spazierte ich zwischen so vielen Bienen wie noch nie in meinem ganzen Leben; am Eingang eines Museums sah ich ein Plakat mit Passbilder vermisster Terroristen, die ich später als von der RAF vermutete, aber meine Mutter meinte, das mache keinen Sinn.
 
Als ich das zweite Mal für vierzehn Tage nach Berlin fuhr, machte ich mit meinem Liebhaber Urlaub, zum ersten Mal außerhalb der iberischen Halbinsel. Die Stadt war noch kein Touristenziel und er war noch nie in einem Flugzeug gesessen. Wir waren in unseren Mittzwanzigern, und zum ersten Mal fühlte ich mich im Tacheles oder in der Oranienstraße wirklich zu Hause. Das dritte Mal war ich für drei Monate im Rahmen eines Postgraduierten-Praktikums namens Leonardo da Vinci alleine unterwegs.  Ich wohnte in einer WG im Tierpark hinter Lichtenberg und weinte mir die Augen aus dem Kopf, als mein Bruder, meine Mutter und eine Freundin auf dem noch funktionierenden Flughafen Tempelhof landeten, um mich zu besuchen. Das vierte Mal war nicht für immer, wie ich gedacht hatte, aber es waren fünfzehn Jahre. Hätte die Pandemie nicht die Illusion der Zugehörigkeit zerstört, Unterschiede und Ungleichheiten unter einem Vergrößerungsglas sichtbar gemacht und oberflächliche Risse in tiefe Krater verwandelt, würde ich jetzt vielleicht vor dem Aufstieg der Rechtsextremisten in diesem Land zittern - aber nicht in Berlin, wo die Linke gestern gewonnen hat, denn Berlin ist, ungeachtet der Gentrifizierung, der Sparmaßnahmen, der Wohnungspolitik und der wachsenden Fremdenfeindlichkeit, nicht Deutschland. Das haben mir alle Deutschen, die mir wichtig sind, immer gesagt, und es scheint noch teilweise zu stimmen.

Heute denke ich an sie, an die, mit denen ich immer noch regelmäßig spreche oder schreibe, nachdem ich anderthalb Jahre in der Hauptstadt meiner Verwandlung zu mir selbst nicht mehr bin: Meine gute Freundin, die sagt, sie fühlt sich angezogen von Widersprüchen, der Jüngste, der sagt, die Welt ist verrückt und auch der Ältesten, der viel nachdenkt, eine Menge verschiedener, manchmal sehr interessanter Ansichten vertritt, mir mehr Informationen zukommen lässt, als ich verarbeiten kann, und viel zu viele Meinungen zu meinen Plänen, Ängsten, Entscheidungen oder Bestrebungen äußert. Ich frage mich, wann ich Berlin wieder besuchen kann und sie an einer Straßenecke gemeinsamer Erinnerungen umarme, was dann aus ihnen wird, wie aus all den anderen, die ich so spürbar und beängstigend vermisse. Ich bezweifle, dass es keine gute Idee ist, an die Orte zurückzukehren, an denen wir glücklich waren. Wenn man lange genug bleibt, kann man eine ganze Reihe von Gefühlen und Veränderungen erleben. Eine Tatsache, die vor allem in Berlin.


 

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