Die vom Wege Abgekommene*

Heute müsste ich endlich den Text für das Weihnachtsstück lernen. Ich habe es seit zwei Jahren nicht mehr gespielt, und jetzt habe ich dummerweise beschlossen, den Auftrag anzunehmen, um es nächste Woche zum vollendeten Abschied vom Kindertheater auf einer fremden Bühne noch einmal zu spielen. Aber ein Besuch von meinen jüngsten Brieffreundinnen, die ich in den letzten beiden Jahren nie wieder persönlich begegnet hatte, war bei mir auch heute geplant. Eine Kulisse von Alice in Wunderland kam eher gelegen...

Ich habe Zitronenmelissentee aus dem Garten gekocht und Scones gebacken, sie kamen. Offensichtlich genießen sie einen Damen-Tee mit Porzellan auf weißem Baumwollhandtuch genauso sehr wie ich. Wir tranken und aßen zu den Rhythmen von Verdis La Traviata, während sie mir von ihrem Leben erzählten und Fragen zu meiner Wohnung stellten. Sie sagten sofort, dass sie sich vorstellen könnten, hierher zu ziehen, und obwohl ich es bereits wusste, dass das Ambiente mit den warmen Lichtern von Großmutters Haus und Elementen von Werkstatt, Atelier und Garderobe gemischt, sicherlich ihrem Gefühl von Freiheit und Komfort entsprechen würde, konnte ich nicht anders, als mich wirklich zu freuen. Es kommt nicht mehr so oft vor, dass man eine gute Zeit am Tisch mit Menschen verbringt, die noch so transparent und voller Lust sind, den Moment zu genießen, indem sie erzählen, was sie durchmachen und zeigen, was sie in sich tragen. 

Die jüngere Schwester einer von ihnen, die auch bleiben wollte, genoss besonders die Butter, die auf dem noch warmen Kuchenteig schmolz, und war die neugierigste, meine Kürbismarmelade zu probieren, deren Herstellung ich von meiner Großmutter gelernt habe. La Traviata ist auch ein Erbe: nicht gerade diese Platte mit Callas und nicht Teresa Stratas, wie die, die ich in meinem Elternhaus an endlosen Nachmittagen auf einem flauschigen Teppich vor den leeren Stühlen, die ich mir beim Ballett mit Zuschauern gefüllt vorstellte, hörte. Des Werkes an sich blieb mir eine Neigung zur Katharsis, und wir konnten nun für die Dauer des zweistündigen Plattenwechsels wieder etwas davon zusammen spüren. Die beiden Mädchen, für die die Möglichkeiten ebenfalls ungewisser wurden, begannen, über ihre Erinnerungen auf der Bühne, als ich sie noch unterrichtete, zu sprechen, und verwoben sie mit den gegenwärtigen Zweifeln und Absichten in Bezug auf Theaterexperimente unter der Wahrnehmung des geteilten Abenteuers. Dann bat mich die Kleine, die rote Perücke zu tragen. Später dann die grüne und auch den Zauberstaub zu schwenken. Sie wollte sich schließlich wie eine Hexe fühlen. Ihre Schwester und deren Freundin freuten sich, meine Schminktasche zu erkennen und die Verwandlung beobachten zu können, während sie aus ihren rosa Tassen Bedenken weiter ausräumten. 

Die Hexe erschien, der Tee war fertig und alle unsere gesättigten Körper entspannten sich in zufriedener und leicht aufgeregter Gemeinschaft. Wie beim Theater. Zum Tanzen war keine Zeit mehr, aber der Abschied war lang und herzlich, wie es sich gehört. Das Geschirr ist gespült, die Pinsel sind bereits trocken und aufgeräumt, ebenso wie das Baumwolltuch. Das Weihnachtsstück liegt wieder auf dem Tisch und ich warte immer noch auf einen guten Grund, mich ein letztes Mal darauf einzulassen, jetzt, wo wir wieder einmal in der Schwebe sind und auf wirksame Entschließungen warten müssen. Eines habe ich in den letzten zwei Jahren festgestellt: Man sollte nicht so lange warten, um das und die, die einem was Befreiendes bedeuten, irgendwie zu erreichen. 


* „Die vom Wege Abgekommene“ ist der deutsche Titel 
für Verdis  "La Traviata"


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