Wir sind immer noch hier

Ab und zu vermisse ich einen Freund von mir, der wie ich kein Smartphone hat und nicht gerne telefoniert. Er sagt, dass nur Wissenschaftler erlaubt zu regieren sein sollten. Als er es erst einmal sagte, antwortete ich, dass es nur eine gute Losung für die Zustand der Welt wäre, wenn auch Künstler und Sozialwissenschaftler dabei wären - was auch nicht auf keinen Fall demokratisch oder minimal ausreichend ist. Wir haben uns auf der Straße, im Lustgarten in Berlin, kennengelernt. Es war Mai des Jahres 2011 und ich konnte kaum Deutsch sprechen, wollte nicht mehr als Kellnerin arbeiten, aber wusste es noch nicht, ob ich mich ins Theater als Migrantin trauen könnte. 

Die Spanier, damals aka indignados, waren an der Reihe, die Saat für eine echter Demokratie zu säen. Sie hatten der Bewegung 15M oder Toma la Plaza genannt, das heißt „nimm den Platz“. Vorher gab es die Bewegung Geração à Rasca, in Portugal, was Generation in Not bedeutet. Noch früher hatte die berühmte arabische Frühling stattgefunden, die uns alle beeinflusst hat... und die gleichermaßen gute und schlechte Wirkungen überall weckte. Ein Paar Monate später erschien die Sozial-Bewegung Occupy in den USA. Ich sehe dieses Jahr noch als einen wichtigen Moment des Erwachens der allgemeinen Wahrnehmung der Bürger als unersetzliche Agenten des positiven Wandels in den Gesellschaften, aber heutzutage weiß ich auch, dass solch eine Offenheit für den Andere alle möglichen Leute anzieht, die kein Interesse an langsame, wirklich demokratische Prozesse haben. Zum Beispiel Verschwörungstheoretiker ohne Ende, zwanghafte Lügner, Narzissten insofern als Soziopathen, sowie Obdachlose, mit denen niemand konfrontiert werden möchte, die aber trotzdem existieren und einen Platz unter all den anderen einnehmen (der nicht klein ist).

Im Lustgarten wollten wir Bürger aus der ganzen Welt, aber auch aus Deutschland, mit der Leute aus Madrid und andere Herkünfte in Spanien mitmachen; man musste es wollen, fähig zu werden, um einander wirklich zuzuhören und verschiedene Konsense zu schaffen. Mir ist es etwas langsam klar geworden, dass die Mehrheit der Leute noch nicht dafür bereit ist. Die meisten Menschen sind nicht in der Lage, ihre Denkgewohnheiten infrage zu stellen oder sich an Themen der anderen zu interessieren, geschweige denn, sich auf Seinsweisen und Zusammenhänge einzulassen, die ihnen fremd sind. Die meisten Spanier wollten auf ihre Muttersprache und die aus Spanien stammenden Themen nicht aufgeben; viele der Deutschen und Griechen, die sich anschlossen, wollten sich auch unbedingt nur auf ihre Muttersprachen ausdrücken zu können und auf ihre eigene, nationale Probleme zu fokussieren. Bald gründeten sie ihre eigenen Gruppen. Und dann trafen wir uns nur noch in gemeinsamen Kämpfen wieder. Einige von uns dachten aber, dass die Tatsache, dass wir alle hier in der Mitte Europas waren, dazu dienen musste, uns lokal gemeinsam zu organisieren, ohne zu vergessen, woher jeder von uns kam. Und wir kamen aus vielen Orten, zusätzlich zu den bereits erwähnten: den USA, Kanada, Irland, England, Australien oder dem Iran. Es variierte auch, aber ich war fast immer die einzige Portugiesisch Muttersprachlerin. Alle zusammen und auf Englisch oder mit Simultanübersetzern gründeten wir die IGB, was einfach International Group Berlin bedeutet. Jahre lang trafen wir uns noch zu ausführlichen Debatten und Versammlungen, um Politik zu diskutieren und um kreative Aktionen im öffentlichen Raum oder unsere Teilnahme in eher konventionellen Demonstrationen oder Besetzungen zu konzipieren und vorzubereiten.

Die Debatten und assembleas waren mit ihren vielen Moderationsregeln wahrlich horizontale, angriffsfreie Oasen, aber sie waren auch von Blockaden und weniger interessanten Lösungen durch die Einigung auf einen Konsens unterworfen. Wir haben uns wirklich die Zeit für den schwierigen Prozess gegeben, viele verschiedenen Gesellschaftsschichten und Weltanschauungen in diesem Moment unseres Lebens unterzubringen, was großartig war und meine Fähigkeit, dem Anderen auf ehrliche Weise zuzuhören, auf jeden Fall entwickelt. Aber ich erinnere mich auch an die Frustration, dass wir kaum jemals zu einem Ergebnis kamen, nämlich immer dann, wenn wir eine rein politische Erklärung schreiben wollten: bis zum Schluss konnten wir uns nie darauf einigen, als 100% antikapitalistisch äußern zu wollen. Wir waren aber auf einen ziemlich guten Weg was zutiefst Kollektives zu schaffen bis die giftigen Esoteriker und skrupellosen Künstler schon überall waren: 2012 wurden wir, neben anderen politischen Gruppen aus der Stadt, eingeladen, bei der 7. Berlin-Biennale mitzumachen. Zusammen mit einigen Verschwörungstheoretikern, klassischen, linksradikalen Aktivisten, verlorenen Seelen, Elite-Akademikern und auch ein paar Egomanen, vorbereiteten wir einen Teil der berühmten internationalen Kunstausstellung und hielten es danach nicht mehr so lange aus; nach dem echten Zoo, an dem wir auch beteiligt waren, fiel die Gruppe auseinander und hielt nicht mehr lange durch, sich regelmäßig im New York am Bethanien weiter zu treffen. 

Nach fast 10 Jahren, treffe ich noch gelegentlich einige der Gründungsmitglieder der IGB; es ist erfrischend festzustellen, dass wir köstliche stundenlange Gespräche und freundschaftliche Auseinandersetzungen immer noch haben können. Viele von ihnen sind nicht mehr in Deutschland. Eine, die Übersetzerin war, ist schon vor langer Zeit gestorben. Einer ist vor nicht allzu lange her zurück in Kanada. Die einzige verbliebene Spanierin ist eine Nachbarin, die langsam immer näher zu mir kommt. Es gibt ein paar, die in Berlin noch wohnen, aber die fast immer verschwinden. Es gibt drei andere, die enge Freunden sind, mir wichtig geworden: eine ist in die englische Landschaft umgezogen und die letzte zwei sind eine Ossi und einer Wessi, etwa gleich alt, die sich einmal bei mir am Weihnachten nicht anders als streiten gemacht haben. Also Weihnachten bei mir ist wieder an die Familie beschränkt, aber außerdem bin ich fast immer mit offenen Armen und Türen, bereit um unsere Unterschiede zu diskutieren. Dieser Freund von mir war es nicht, während der ersten Quarantäne im letzten Jahr. Da er eine tiefe Exaktenwissenschaftsorientierung im Leben hat und fast immer extrem gut informiert ist, wusste er schon in Januar was die Pandemie betrifft kommen würde und hat mir ungemein geholfen, mich dafür psychisch vorzubereiten. Das Problem war, wenn ich mich nach Wochen nicht mehr ganz zu Hause einschließen wollte, sondern ein Gemeinschaftsprojekt mit den Nachbarn dazu entwickeln, die sich ohnehin schon ohne Abstand und manchmal mit Gästen an der Grünfläche erfreuten, die mein Lebenspartner und ich in dem von uns besetzten Hof in den letzten Jahren angelegt hatten - wir müssten uns darum kümmern, weil wir genauso wie dieser Freund von mir, schockiert mit den Covididiots waren. Wir konfrontieren einfach den Andere auf unterschiedliche Art und Weise. Wahrscheinlich nehmen wir die Grenzen unserer geistigen Gesundheit und ihre Bedürfnisse auch anders wahr.

Mein Partner und ich glauben immer noch an offene friedliche Kommunikation statt an verbale Aggression und das geht immer noch nicht ohne die Fähigkeit, richtig zuzuhören, bevor gegnerische Argumente gleichzeitlich vorbereitet werden, angenommen, dass man bereits weißt, was der andere denkt und sagen wird. Ich glaube, dass dieser isolierte, intelligente Freund mich nicht beleidigen wollte, als er sich entschied, den Kontakt mit mir plötzlich aufzubrechen: wir kennen uns gut. Wir haben uns nie oft getroffen, aber trotzdem haben wir uns sehr häufig E-Mails geschrieben. Seltener gingen wir ins Kino, machten Picknicks im Tempelhofer Feld, irgendwelchem Park oder Ufer und zuletzt haben wir auch zusammen in Restaurants gegessen, normalerweise asiatisch oder italienisch. Einmal war ich auf seinem tollen Balkon, was sich wie der Höhepunkt des Sommers anfühlte, es war aber noch Frühling. Er hat alle meine Gefängnistheater-Produktionen zugeschaut und sie danach kommentiert. Wenigstens einmal pro Jahr wurden wir bei mir essen und das letzte Mal haben wir uns auch einen Film angesehen, es war "Parasite", schon im 2020. Dann haben wir wie immer über Musik, Kunst und alle mögliche Themen stundenlang gesprochen und Whisky bis es Morgen war getrunken. 

Ich warte immer noch darauf, dass er sich endlich mal meldet und mir zuhört. Dann könnten wir uns ruhig weiter widersprechen - bis wir uns über das Thema vielleicht einigen, vielleicht auch nicht. Man kann es trotzdem wieder versuchen, sich gegenseitig zu respektieren und nicht zu verletzen, auch wenn nur mit eisern Schweigen.

The IGB demonstrating for social justice, real democracy and another future
together with diverse social movements and world citizens, 
Berlin, May 2012

Comments

  1. Fein, dieser Rückblick, ein wenig bitter. Ich habe es damals nicht so konfliktreich erlebt. Vielleicht war ich weiter am Rand der Bewegung. Neulich musste ich lachen, weil die Kunst-Redakteurin der Berliner Zeitung schrieb, es seien Obdachlose gewesen auf der Biennale. Na ja, ein bisschen obdachlos sind wir wirklich. Wir haben gerade kein politisches Zuhause. Damals ging es gerade kaputt. Die Rechten haben viele Themen vergiftet. Jetzt vergiften die Verschwörungstheoretiker und Esos weitere wichtige Themen. Was bleibt? Wir sind immer noch hier.

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    1. Das ist ja sehr poetisch, es gab aber tatsächlich, wie in Occupy-Camp, Obdachlose und jede Art von Problemen auf der Biennale, besonders für die, die dort gewohnt haben...

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  2. Schön. Es macht mich nostalgisch. Wir sind doch noch hier.

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  3. Was ich auch gerne sagen würde, ist das irgendwie in Berlin hat was nicht geklappt. Wie Du gesagt hast, könnten wir in der Assembleas kaum für was entscheiden. Aber in Spanien es war total was anderes. Vor IGB war ich in eine Woche lang in Acampada Sol (Madrid), und da habe ich gesehen was zauberliches. Ich habe eine riesige Assamblea von vllt 10 000 Menschen gesehen, die könnten gut und effizient eine Tagesordnung bauen, und danach die Tagesordnung folgen, und sich sehr effizient und produktiv für viele entscheiden und zu Working Groups arbeit geben und dabei viele viele Tun. Und es hat so schön geklappt, auch wenn jeder von diesen 10 000 Menschen ein Vetorecht hat!! Als ich noch daran denke wie schön es war so eine perfekte Anarchie laufen zu sehen, kommen mir jetzt von viele positive Gefühle die Tränen zu den Augen.

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    1. Ich glaube es war eine der schönste Dinge die ich jemals in meine Leben gesehen habe.

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    2. Warum könnte die Madrilenos sich so gut selbsorganisieren und die Berliner nicht, kann ich nicht so gut erklären. Aber die Verschiedenheit könnte nicht grösser gewesen sein.

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    3. Vielleicht wegen der Internationalität selbst? Schöne Beschreibung aus Acampada Sol. ❤️

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